Laufen Strafverfahren eigentlich wirklich immer gerecht ab? Und wenn ich nicht genug Geld habe, um mir einen Verteidiger zu leisten, bin ich dann ohne Anwalt dem Staat nicht völlig schutzlos ausgeliefert? Solche oder ähnliche Gedanken schwirren vielen Mitmenschen im Kopf umher. Nicht zwangsläufig aus Misstrauen gegenüber staatlicher Gewalt, sondern eher aus Unwissenheit und Unsicherheit gegenüber einem hoch komplexen System, welches man als Nicht-Jurist oft nur schwer durchschaut.
1. Typisierte Fälle des notwendigen Verteidigers
Juristisch korrekt lautet die Bezeichnung gar nicht Pflichtverteidiger, sondern notwendiger Verteidiger. In § 140 StPO (Strafprozessordnung) werden Gründe dafür aufgezählt, wann einem Angeklagten ein Verteidiger notwendigerweise zugeordnet werden muss. Im Absatz 1 des § 140 StPo werden typisierte Gründe aufgelistet, die einen notwendigen Verteidiger erfordern, während in Absatz 2 eine Generalklausel formuliert wird, die Fälle auffängt, in denen ein Pflichtverteidiger notwendig ist, die aber nicht unter die aufgezählten Fälle des Absatzes 1 fallen.
Absatz 1 zählt beispielsweise auf, dass die Mitwirkung eines Verteidiger notwendig ist, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem OLG oder LG stattfindet, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen vorgeworfen wird, ihm eine Untersuchungshaft droht oder ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird. Das OLG oder LG ist in erster Instanz dann zuständig, wenn gem. §§74 Abs. 1, Abs. 2, 74 a ff GVG entweder eine der in §74 Abs. 2 Nr. 1 - 30 GBG normierten Katalogstraftaten zur Debatte stehen oder bei sonstigen Verbrechen oder Vergehen nach §§ 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 74 Abs. 1 GVG dem Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren droht.
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Gleichsam ist ein Verteidiger auch dann Pflicht, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Verbrechen, im Gegensatz zu Vergehen sind nach § 12 StGB Straftaten, die mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind. Es ergibt sich somit ein klares Bild:
Ein Pflichtverteidiger muss immer dann beigeordnet werden, wenn dem Beschuldigten erhebliche Grundrechtseingriffe drohen.
Sei es in Form von langen Freiheitsentziehungen, Untersuchungshaft oder Berufsverboten. Demnach dient die Vorschrift des § 140 StPO dem intensiven Schutz von Grundrechten und Verfahrensrechten vor Gericht.
Die weiteren Beispiele des Absatzes 1 umfassen die Fälle, dass sich der Beschuldigte mindestens drei Monate in einer Anstalt befunden hat, er zur Vorbereitung eines psychologischen Gutachtens in einer Unterbringung verbracht hat, oder der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist. Ein weiterer Fall für einen notwendigen Verteidiger ergibt sich, wenn dem Verletzen nach den §§ 379 a und 406h StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet wurde. Die einzige Alternative, die laut Absatz 3 aufgehoben werden kann, ist die Nr. 5, also wenn der Beschuldigte mindestens drei Monate aufgrund einer richterlichen Anordnung in einer Anstalt verbracht hat.
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2. Die Generalklausel
Wesensüblich für eine Generalklausel ist, dass diese derart formuliert ist, dass sie weite Begriffe nutzt, um einen Auffangtatbestand zu bieten, der atypische Konstellationen mit ähnlicher Gefährdungslage auffängt. In § 140 StPO wird diese Generalklausel folgendermaßen formuliert:
„In anderen Fällen bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann“.
Aus dieser Formulierung ist zu entnehmen, dass der Strafrichter sowohl auf Antrag des Staatsanwaltes, des Beschuldigten oder anderer Beteiligter einen Verteidiger bestellen kann, aber auch selbst Initiative zeigen und dem Beschuldigten einen Verteidiger zur Seiten stellen kann. Dies geht aus „auf Antrag oder von Amts wegen“ hervor.
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Darüber hinaus zählt diese Generalklausel drei Alternativen auf, unter denen ein Verteidiger ebenfalls notwendig wäre. Gründe dieser drei Fälle sind:
1. Die Schwere der Tat
2. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage
3. oder die ersichtliche Unfähigkeit des Beschuldigten sich selbst zu verteidigen.
Bei dem ersten Fall richtet sich die Schwere der Tat vor allem nach den drohenden Rechtsfolgen. Wie eben auch in den typisierten Fällen ist eine drohende Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ein Grund, einen Verteidiger beizuordnen.
Bei dem Merkmal der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage kommt es immer auf den Einzelfall an, Fallgruppen lassen sich hier kaum bilden. Beispielhaft wäre aber jedenfalls, wenn die Beweislage aufgrund vieler Zeugen und sehr unterschiedlicher Aussagen verkompliziert wird. Unter Ausblendung anderer Gründe, wäre beispielsweise im NSU-Verfahren ein Beschuldigter ohne Verteidiger aufgrund der komplexen Sachlage undenkbar gewesen. Eine schwierige Rechtslage wäre wohl anzunehmen, wenn ein ungewöhnliches rechtliches Problem auftritt, dass es in der Konstellation vor Gericht noch nicht gegeben hat.
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Die Unfähigkeit des Beschuldigten sich selbst zu verteidigen soll nicht an seinen juristischen Fähigkeiten gemessen werden, sondern vielmehr an allgemeinen Voraussetzungen, wie beispielsweise seinem Gesundheitszustand, erheblichen Konzentrationsschwierigkeiten und sprachlichen Verständnisschwierigkeiten. Da das Grundgesetz sich den deutschen Staat auch als Sozialstaat formuliert, ist das Gebot des notwendigen Verteidigers auch dazu da, eventuelle Mittellosigkeit aufzufangen und trotzdem ausreichend Rechtschutz zu gewähren. Auch in all diesen Konstellationen wird deutlich: Der Beschuldigte soll dann durch einen Anwalt geschützt werden, wenn er sich in einer besonders schwachen Position befindet. In dieser Situation soll der Anwalt sich der Interessen des Beschuldigten annehmen und diese an seiner Statt vor Gericht vertreten und damit auch seine Grundrechte schützen.
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