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Nische Medizinstrafrecht!

Überblick und Fallbeispiele zu einem Rechtsbereich mit großer praktischer Bedeutung...

Medizinstrafrecht spielt in der akademischen Ausbildung eine eher untergeordnete Rolle, nur an einigen Universitäten handelt es sich dabei um einen Schwerpunkt. Dieses ist damit eine universitäre Nische im Jurastudium jedoch mit großer praktischer Bedeutung. Für eine Anwaltstätigkeit mit dieser Spezialisierung werden nicht nur gute Kenntnisse im Strafrecht erwartet, sondern unter anderem auch Kenntnisse im Zivilrecht und im Sozialrecht.

Medizinstrafrecht ist nicht nur ein komplexes Themengebiet, sondern auch ein problemreiches. Die folgenden Probleme sollen anhand kleiner Fälle näher beleuchtet werden, um einen ersten Eindruck zu liefern:

  • Der Heileingriff als Körperverletzung
  • Pflichtenkollision
  • Patientenverfügung / Einwilligung
  • Verstoß gegen die guten Sitten
  • Unglücksfälle i.S.d. § 323c StGB
     

Weitere Problemfelder sind beispielsweise Unterlassen vs. Begehung, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, Tötung auf Verlangen, Schwangerschaftsabbruch, die ärztliche Aufklärungspflicht sowie Facharztstandards.

Der Heileingriff als Körperverletzung

Die sechsjährige O leidet an einer lebensbedrohlichen tuberkulösen Vereiterung der Fußwurzelknochen. Chirurg C amputiert deshalb den Fuß, entgegen dem mehrfach artikulierten Widerspruch der erziehungsberechtigten Mutter. Aufgrund dieses medizinisch indizierten und kunstgerecht (lege artis) durchgeführten Eingriffs heilt die Tuberkulose bei O aus.

Hat sich C strafbar gemacht?

Nach der ständigen Rechtsprechung handelt es sich bei einem Heileingriff um eine Körperverletzung i.S.d. § 223 StGB, unabhängig davon, ob dieser medizinisch indiziert war und lege artis durchgeführt wurde. Sie bedarf deshalb einer Rechtfertigung, etwa durch eine Einwilligung. Zur Begründung wird insbesondere der Schutz des patientenseitigen Selbstbestimmungsrechts herangeführt. Außerdem sei eine Tatbestandsmäßigkeit noch kein Unwerturteil.

Demgegenüber wird kritisch angeführt, dass durch diese Rechtsprechung eine Gleichstellung des Arztes mit einem Messerstecher erfolge. Außerdem sei ein kunstgemäßer bzw. erfolgreich durchgeführter ärztlicher Eingriff gerade keine üble, unangemessene Behandlung des Körpers – vielmehr verbessert er den Gesundheitszustand des Patienten.

Pflichtenkollision

Notarzt N wird an eine Unfallstelle gerufen. Dort liegen die ihm unbekannte 13-jährige A und sein bester Freund, der 63-jährige B, schwer verletzt. Da N die Rettungsmaßnahmen selbst durchführen muss, ist eine gleichzeitige Rettung beider Verletzter ausgeschlossen. Ihm ist bewusst, dass er nur das Leben eines Verletzten retten kann. Er beginnt somit unverzüglich mit den Rettungsmaßnahmen an B. Währenddessen verstirbt A.

Hat sich N strafbar gemacht?

Man spricht von einer Pflichtenkollision, wenn eine Konkurrenz mehrerer Handlungspflichten besteht, von denen der Arzt nur eine erfüllen kann. Es handelt sich dabei um einen Rechtfertigungsgrund, soweit die höher- oder gleichwertigen Pflichten gewahrt werden. Das Rangverhältnis der kollidierenden Pflichten hängt insbesondere ab

  • vom Wert der gefährdeten Güter (z.B.: Leben vs. Gesundheit)
  • vom Ausmaß der ihnen drohenden Beeinträchtigung
  • vom Grad der Gefahr
  • von der Rettungswahrscheinlichkeit

Ein Rangverhältnis besteht jedoch dann nicht, wenn eines der Opfer noch „in der Blüte“ des Lebens steht und das andere Opfer sich bereits im Greisenalter befindet. Eine solche Differenzierung verbietet nämlich der verfassungsrechtlich gebotene, absolute Lebensschutz.

Patientenverfügung / Einwilligung

Chirurg C bemerkt während einer Operation zur Nasenkorrektur, dass sein Patient O unter Nasenpolypen leidet. C entfernt diese, obwohl dies vorher nicht mit S besprochen war. Er geht dabei jedoch davon aus, dass S sich ungern einer weiteren Operation unterziehen möchte.

Der Eingriff war (trotz einiger Risiken) medizinisch indiziert, auch wenn zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung des Lebens des S vorlag. Die Operation verläuft erfolgreich, die Nasenatmung des O ist deutlich verbessert.

Hat sich C strafbar gemacht?

C ging vorliegend davon aus, dass eine mutmaßliche Einwilligung des O vorliegt. Eine solche ist nämlich grundsätzlich dann gegeben, wenn die ärztliche Behandlung unaufschiebbar ist und eine rechtzeitige Einwilligung nicht erteilt werden kann. Dabei hat der Arzt aber stets zu entscheiden, ob Behandlung dem Patientenwillen entspricht.

Anwendungsbereiche der mutmaßlichen Einwilligung sind demnach unter anderem die notfallmedizinische Behandlung sowie die Operationserweiterung.

Eine Sonderform des Rechtfertigungsgrundes der Einwilligung ist die Patientenverfügung. Nach der Legaldefinition des § 1901a Abs. 1 BGB handelt es sich dabei um eine antizipierte Einwilligung, mit der ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Sie ist somit ein besonderer Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts, die verbindlich für Ärzte, Betreuer und Vorsorgebevollmächtigte ist.

Verstoß gegen die guten Sitten

O hat unerträgliche Kopfschmerzen. Sie geht deshalb zu Zahnarzt Z und verlangt von ihm, dass dieser alle ihre Zähne zieht. Z erklärt ihr daraufhin, dass ihre Zähne nicht die Ursache der Kopfschmerzen seien. O lässt sich jedoch nicht überzeugen und verlangt weiter den Eingriff. Z gibt ihrem Drängen schließlich nach und zieht alle Zähne der O.

Hat sich C strafbar gemacht?

Ein Verstoß gegen die guten Sitten ist jeder Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden. Die Beurteilung erfolgt stets mit Blick auf Ausmaß des Eingriffs in die körperliche Integrität und Eingriffszweck.

Diskussionen erfolgen regelmäßig zu den Themen Doping oder Geschlechtsumwandlung, aber zum Teil auch zur Kastration oder zur Lebendspende.

Unglücksfälle i.S.d. § 323c StGB

Hypochonder O klagt gegenüber dem Arzt A über ein Kribbeln in den Armen und über stechende Schmerzen im Brustbereich. A erkennt zwar, dass dies mögliche Vorzeichen eines kommenden Herzinfarktes sein könne, geht jedoch davon aus, dass der für seine Dramatisierungen bekannte O in seinen Ausführungen übertreibe. Er schickt O deshalb nach Hause. Auf dem Heimweg erleidet O tatsächlich einem Herzinfarkt, kann jedoch gerettet werden.

Hat sich A strafbar gemacht?

In Betracht kommt eine Strafbarkeit gem. § 323c StGB. Bestraft wird nämlich das Unterlassen der Hilfeleistung und nicht das Unterlassen der Erfolgsabwendung. Es handelt sich demnach um ein echtes Unterlassungsdelikt, das an Jedermann adressiert ist. Einer besonderen Arztpflicht bedarf es somit nicht. Allerdings kann die ärztliche Sachkunde aber bei Art und Umfang der gebotenen Hilfeleistung eine Rolle spielen.

Probleme im Rahmen des § 323c StGB gibt es dreierlei:
 

  1. Was ist ein Unglücksfall im Medizinstrafrecht?

Nach einer Ansicht kann ein Unglücksfall nur eine plötzliche und sich rasch verschlimmernde Wendung eines Krankheitsverlaufs sein, nicht jedoch jede Erkrankung. Im Allgemeinen ist ein Unglücksfall nämlich jedes plötzlich eintretende Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für Personen oder Sachen mit sich bringt bzw. zu bringen droht.

Demgegenüber vertritt eine andere Ansicht, dass jeder Krankheitsverlauf ein Unglücksfall i.S.d. § 323c StGB ist, soweit er eine gegenwärtige Gefahr und sofortige Behandlungsnotwendigkeit bedingt. Zur Begründung wird herangezogen, dass die „Plötzlichkeit“ der Entwicklung sich nur schwer feststellen lässt.
 

  1. Welche Perspektive ist für die Beurteilung eines Unglücksfalls anzuwenden?

Eine Ansicht will die ex ante-Perspektive eines verständigen Beobachters anwenden. Begründet wird dies mit dem Allgemeininteresse an der Wahrung mitmenschlicher Solidarität. Hilfeleistungen sind auch in Fällen einer nur scheinbaren Notlage geboten.

Eine andere Ansicht will hingegen die ex post-Perspektive anwenden, da anderenfalls die Straflosigkeit des Versuchs der unterlassenen Hilfeleistung konterkariert würde, die irrige Annahme einer Notsituation tatbestandsmäßig wäre und die allgemeine Solidaritätspflicht nur bei wirklichen Unglücksfällen strafrechtlich abgesichert werden muss.
 

  1. Ist § 323c StGB ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB

Nach einer Ansicht handelt es sich bei § 323c StGB nicht um ein Schutzgesetz, da das Schutzgut allein das Allgemeininteresse an solidarischer Schadensabwehr in akuten Notlagen ist.
Demgegenüber wird vertreten, dass allein die Individualschutzgüter geschützt werden sollen, weswegen es sich bei § 323c StGB um ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB handelt.


Das Medizinstrafrecht bietet also viele komplexe Themenfelder, bei denen kontroverse Diskussionen geführt werden können. Deshalb müssen sich auch die Gerichte häufig mit diesen Themen auseinandersetzen. Die praktische Bedeutung ist also enorm, auch wenn es in der akademischen Ausbildung nur eine untergeordnete Rolle spielt.