Lydia Benecke und Alisha Andert | New Lawyers

Veröffentlicht am 21.07.2021

Lydia Benecke - Wie kann Rückfallprävention aussehen?

Die Kriminalpsychologin und Autorin im Gespräch mit Alisha Andert bei New Lawyers

Lydia Benecke ist eine der bekanntesten Kriminalpsychologinnen Deutschlands. Zwei ihrer Schwerpunkte liegt unter anderem in Persönlichkeitsstörungen und Psychopathie. Sie ist außerdem Autorin diverser Sachbücher, unter anderem schrieb sie ein Buch über Psychopathinnen und in ihrem neuen Buch widmet sie sich Hochstaplern und der Psychologie der Manipulation. Mit Alisha Andert spricht sie über Rückfallprävention, wie Straftäter funktionieren und zu Tätern werden und die perfekte Lüge.


Als Kriminalpsychologin hat sich Lydia Benecke auf Sexual- und Gewaltstraftäter spezialisiert und ist unter anderem in einer sozialtherapeutischen Einrichtung tätig, wo sie die Gewaltstraftäter-Gruppe leitet. Zudem arbeitet sie in einer ambulanten therapeutischen Einrichtung mit Sexualstraftätern, deren Bewährungsauflagen derartige Maßnahmen beinhalten.
 

Wie sieht die Arbeit in einer sozialtherapeutischen Einrichtung aus?

Ein wichtiges Instrument in der Rückfallprävention, erklärt Lydia Benecke, sei die Biographiearbeit. Hier gilt es vor allem herauszufinden, warum Straftäter so gehandelt haben: Gibt es Muster und Strukturen, die sich durch die jeweiligen Biographien ziehen oder Ereignisse, die einen nachhaltigen negativen Effekt hatten?

“Es ist eine sehr analytische Arbeit und wie sezieren die Biographie regelrecht” sagt Lydia Benecke im Gespräch mit Alisha Andert. Bei ihrer Arbeit mit Sexualstraftätern – ja, es handelt sich hier fast ausschließlich um Männer, warum dies so ist, benennt Lydia Benecke im Gespräch – kommt zudem eine sogenannte Sexualanamese hinzu. 

Anhand zahlreicher Beispiele veranschaulicht Lydia Benecke welche Ereignisse gravierende Folgen gehabt haben können, worin die Unterschiede zwischen emotionaler und körperlicher Verwahrlosung liegen und inwiefern sich früh erlernte Muster auch in Hinblick auf die begangene Straftat erkennen lassen. 

Neben der Biografiearbeit steht in den Therapiestunden natürlich auch alles rund um die Straftat auf der Agenda: Was ging dem voraus? Wie war es konkret während der Tat? Wie war es danach? Bis in kleinste Detail müssen die Straftäter die Situation noch einmal durchleben und dies nicht nur in der Einzeltherapie, sondern auch in der Gruppentherapie.

“Es ist den meisten Tätern sehr unangenehm die Tat erneut Revue passieren zu lassen und darüber nachzudenken und noch unangenehmer ist es ihnen, vor anderen Menschen darüber zu sprechen. Aber das gehört dazu und es zeigt sich immer wieder, dass sich Muster wiederholen und die anderen in vergleichbaren Situationen waren.”

Es gehe auf keinen Fall darum, Mitleid für die Straftäter zu erwecken, sondern um zu verstehen, wie Menschen mit ihren Gefühlen und ihren Mitmenschen umgehen, welche Effekte beispielsweise kindheitliche Prägungen haben können und letztlich den Menschen das richtige Werkzeug an die Hand zu geben, um in zukünftigen Situationen anders zu reagieren.
 

Außerdem bei New Lawyers

Was bringt Rückfallprävention?

“Bei der Rückfallprävention müssen diejenigen erst einmal verstehen, warum sie Grenzen überschritten haben, sonst hätten sie keine schweren Straftaten begangen, die die meisten anderen nicht begangen haben. Und sie haben diese Eigenschaften, die es ihnen ermöglicht haben, diese Grenzen zu überschreiten”, so Lydia Benecke und erklärt weiter “am Ende geht es darum, dass die Täter verstehen, dass sie über Eigenschaften verfügen, die sie Grenzen überschreiten lassen

Die in der Biografiearbeit herausgestellten Merkmale und Muster, die zu solchen Grenzüberschreitungen führen können, sind ein erster wichtiger Schritt. Ebenso gehört zum Gesamtpaket der Therapie neben der Reflexion der Tat auch der Aspekt der Opferempathie: “Die Straftäter müssen nicht nur die persönlichen Voraussetzungen und die Tat selbst verstehen, sondern sich auch in das Opfer hineinversetzen und verstehen, was sie anderen Menschen angetan haben.”

Vervollständigt wird das Paket durch das Auflösen kognitiver Verzerrungen, die als eine sehr eigene Rechtfertigung für die begangene Tat gesehen werden können (“Hätte mein Arbeitgeber mich nicht entlassen, dann hätte ich nicht …”), denn wenn diese erst einmal aufgelöst sind und die Täter ihre Straftaten unter weitestgehend rationalen Gesichtspunkten sehen, verstehen sie das Ausmaß ihres Handelns.

Kommt es dann soweit, dass sich jemand wieder in einer für ihn risikoreichen Situation befindet, hilft es nicht nur, die Situation zu erkennen, sondern auch zu kommunizieren. Idealerweise wird zum Beispiel auch das soziale Umfeld des Täters mit eingebunden und auf solche Situationen vorbereitet, aber auch die therapeutische Einrichtung ist, so Lydia Benecke, auch Jahre später noch für die Leute da, wenn sie nochmal ein Gespräch brauchen.


Wer sich nun fragt, wie genau das Verhalten eines Straftäters, der sich nicht an die Therapieauflagen hält, vorhersehen lässt und was das besondere an Hochstaplern, Betrügern und Blendern als Tätergruppe ist – Anleitung für die perfekte Lüge inlusive – hört am besten in die New Lawyers Folge mit Lydia Benecke rein.
 


Hier findest du das komplette Transkript der Folge mit Lydia Benecke

Intro & Icebreaker

Alisha Andert: Heute im New Lawyers Podcast, Lydia Benecke, Kriminalpsychologin und Autorin.

Lydia Benecke ist Kriminalpsychologin. Zwei ihrer Schwerpunkte liegen unter anderem in Persönlichkeitsstörungen und Psychopathie. Sie ist außerdem Autorin diverser Sachbücher. Unter anderem schrieb sie ein Buch über Psychopathinnen. Wir sprechen heute über Rückfallprävention, wie Straftäter funktionieren und zu Tätern werden und die perfekte Lüge. Die Folge heute wird also gegebenenfalls etwas düsterer, aber ich freue mich sehr, dass sie heute da ist. Herzlich willkommen Lydia Benecke. 

Lydia Benecke: Hallo.

Alisha: Hi. Wir starten immer mit einer Icebreaker Frage und heute habe ich mir mal überlegt, wir steigen quasi etwas ins Thema ein und vielleicht können wir ja sogar schon von dir einen hilfreichen Tipp bekommen, falls jemand mal in diese schreckliche Situation geraten sollte. Und zwar folgende. Wenn du zu Unrecht, also fälschlicherweise in eine geschlossene Anstalt eingewiesen worden wärst. Wie würdest du das Personal davon überzeugen, dass du eigentlich zurechnungsfähig bist?

Lydia: Ich finde diese Frage sehr unwahrscheinlich in Ihrem Gedankenkonstrukt. Es ist also schwer, eine realistische Antwort auf eine Frage zu geben, bei der ich schon die Grundlage sehr schwierig nachvollziehbar fände. Ich kann mir also auf Deutsch keine wirklich realistische Situation vorstellen, in der hierzu kommen würde, um es mal so zu sagen. Dementsprechend ist auch eine Antwort, die ich geben kann, nur sehr abstrakt. Denn in diesem sehr abwegigen Szenario würde ich also wohl davon ausgehen, dass hier ein fachlich schwerer Fehler vorliegt, den ich schon mal in diesem Ausmaß für wenig wahrscheinlich erachte. Aber sollte diese abstrakte Situation eintreten, dann wüsste ich ja, dass ein sicherlich schwerwiegender Fehler vorliegt und dann würde ich wahrscheinlich einen Anwalt konsultieren, der sich mit psychiatrischen Gutachten auskennt und der auch mit Psychiatern Kontakt hat, um dann alsbald eine Begutachtung dann auch durchführen zu lassen, bei der sich dann der Fehler sicherlich erweisen würde.

Denn in diesem sehr abwegigen Szenario würde ich also wohl davon ausgehen, dass hier ein fachlich schwerer Fehler vorliegt, den ich schon mal in diesem Ausmaß für wenig wahrscheinlich erachte.

Aber sollte diese abstrakte Situation eintreten, dann wüsste ich ja, dass ein sicherlich schwerwiegender Fehler vorliegt und dann würde ich wahrscheinlich einen Anwalt konsultieren, der sich mit psychiatrischen Gutachten auskennt und der auch mit Psychiatern Kontakt hat, um dann alsbald eine Begutachtung dann auch durchführen zu lassen, bei der sich dann der Fehler sicherlich erweisen würde.

Alisha: Okay, danke. Als etwas juristischer Podcast freuen wir uns natürlich, dass hier gleich Arbeit für die Anwaltschaft entstanden ist an dieser Stelle.

Lydia: Genau, also ich habe einen guten Freund, der Anwalt ist und ich dachte einfach, also im Zweifelsfall würde ich dann wahrscheinlich den konsultieren.


Job als Kriminalpsychologin und typische Fälle

Alisha: Ist das auf jeden Fall immer eine gute Idee. Okay, dann machen wir jetzt natürlich ein bisschen weg von der Anwaltschaft, lieber hin zu deinem spannenden Job. Du bist Kriminalpsychologin. Kannst du vielleicht erst mal zu Beginn sagen, was diesen Beruf eigentlich auszeichnet, auch im Vergleich zu, in Anführungsstrichen, normaler Psychologin?

Lydia: Es gibt verschiedene Arbeitsbereiche im Kontext von Straftaten, wo Psychologen tätig sein können. Und ich arbeite hauptsächlich in der Rückfallprävention, in therapeutischen Maßnahmen, die Straftätern angeboten werden, damit sie nicht mehr rückfällig werden. Und diese Maßnahmen basieren auf wissenschaftlich erforschten Methoden. Und ich arbeite in zwei Institutionen. Einmal in einer sozialtherapeutischen Anstalt. Das ist eine spezielle Art von JVA, in der Sexual- und Gewaltstraftäter inhaftiert sind und ein besonderes Therapieprogramm erfahren, das ihre Rückfallwahrscheinlichkeit senken soll. Und diejenigen, die dort dieses Programm erhalten, sind häufig betroffen von verschiedenen Persönlichkeitsstörungen und/oder sexuellen Abweichungen, aufgrund derer ein erhöhtes Rückfallrisiko vorliegt. Das ist allerdings noch was anderes, besonders in diesem Podcast sicher wichtig, als eine Maßregelvollzugsklinik. Denn dort würde jemand hinkommen, der deutlich vermindert schuldfähig war. Ich weiß nicht, ob ihr vielleicht dazu schon mal im Podcast was gesagt habt oder ob ich das jetzt erklären muss oder ob ich voraussetzen kann, dass jeder, der hier Zielhörer ist, schon genau weiß, wovon ich rede.

Alisha: Du kannst gerne ein paar Sätze dazu sagen, was eigentlich da der Unterschied ist.

Lydia: Ich arbeite in einer sozialtherapeutischen Anstalt. Dort sind Sexual - und Gewaltstraftäter, die schuldfähig waren, also zum Zeitpunkt der Tat wussten, dass sie das nicht tun dürfen und sich auch anders hätten verhalten können. Das ist nicht dasselbe wie der Maßregelvollzug. Im Maßregelvollzug sind Straftäter und Straftäterinnen, die zum Zeitpunkt der Tat entweder nicht verstehen konnten aufgrund einer psychischen Erkrankung, dass das, was sie tun, falsch ist oder die sich aufgrund von bestimmten Faktoren nicht steuern konnten. Und dort werden diejenigen eben dann behandelt. Ich wollte an dieser Stelle fragen, hattest du von dieser Institution schon gehört? Also früher mal zufällig in irgendeinem Kontext? Oder ist dir der Begriff jetzt zum ersten Mal begegnet mit mir?

Alisha: Ja, ich kenne das nicht. Also ich kenne tatsächlich den Maßregelvollzug, aber dass es sowas gibt sicherlich, aber hätte ich jetzt nicht so benennen können, wie du das benannt hast.

Lydia: Okay, es gibt nämlich in einigen Justizvollzugsanstalten auch sozialtherapeutische Abteilungen, wo eben eine Abteilung in dem Gesamtgebäude genau dem gewidmet ist, was dort, wo ich arbeite, aber in dem kompletten Gebäude durchgeführt wird. Und wir haben halt Sexual- und Gewaltstraftäter, also Menschen, die Kinder sexuell missbraucht haben. Auch da gibt es ja unterschiedliche Tätertypen und psychologische Hintergründe. Dann haben wir auch Menschen, die verschiedene Sexualstraftaten, also auch Vergewaltigungen und auch Tötungsdelikte im sexuellen Kontext begangen haben. Wir haben aber auch Menschen, die Tötungsdelikte außerhalb eines sexuellen Kontextes begangen haben. Und ich leite mit einem Kollegen die Gewaltstraftätergruppe. Da sind also diejenigen, die Tötungsdelikte typischerweise häufig aus einer langen Geschichte von kriminellen Aktivitäten, also teilweise sind das Menschen, die halt seit ihrer Jugend auf unterschiedlichste Art kriminell geworden sind, in kriminellen Milieus auch sich sozialisiert haben. Solche Menschen sind da zum Beispiel, dann gibt es auch Aussteige aus organisierter Kriminalität, also Bandenkriminalität. Manchmal haben wir auch Serienpyromanen dort und wir haben auch immer wieder Menschen dort, die Tötungsdelikte begangen haben, zum Beispiel an Partnerinnen oder auch an anderen Menschen in ihrem Umfeld, weil ja häufiger schwere Straftaten auch im nahen Umfeld begangen werden. Also eine sehr weite Bandbreite von Gewaltstraftaten, die also in der Gruppe sind, die ich dort mit dem Kollegen zusammenleite. Und dann habe ich noch einen anderen Arbeitgeber, nämlich eine Ambulanz für Sexualstraftäter. Dort kommen diejenigen hin im Rahmen einer Bewährungsauflage. Sie haben also im Rahmen der Bewährungsauflagen den Satz, sie müssen sich einer rückfallpräventiven Behandlung unterziehen. Und das bieten wir spezifisch an für Sexualstraftäter und auch StraftäterInnen allerdings. An dieser Stelle muss ich sagen, dass wir in unserer sehr langen Geschichte, und ich arbeite seit 2013 da und die Institutionen gibt es deutlich länger, vielleicht vier weibliche Personen hatten.

Alisha: Das ist ja ein interessanter Punkt. Vielleicht da direkt mal nachgehakt. Hast du da eine Erklärung, warum das ist?

Lydia: Natürlich ist eine Sache, die man nicht in Abrede stellen kann, dass Männer bei Straftaten, natürlich insgesamt bei schweren Straftaten, Gewaltschraftaten und Sexualstraftaten deutlich überrepräsentiert sind in allen Ländern. Und auch in allen Zeiten so. Das ist definitiv ein Faktor. Aber ich weise auch darauf hin, dass wenn Frauen gerade gegenüber Minderjährigen sexuell übergriffig werden und auch sexuellen Missbrauch begehen, dass dort die Hürde, anzuzeigen, noch mal höher ist als bei anderen Missbrauchstaten. Und Missbrauch anzuzeigen ist ja häufig umso schwieriger, umso näher Täter und Opfer sich stehen, wenn es eine familiäre Bindung gibt, was leider häufig der Fall ist. Oder auch eine andere enge soziale Bindung. Und spezifisch, wenn eine weibliche Person aus der Familie oder dem nahen Umfeld einen Missbrauch begeht, ist die Hürde, das anzuzeigen, auch so enorm hoch, dass da wahrscheinlich das Dunkelfeld zumindest, wenn man jetzt alle Taten sich anschaut, die von Frauen begangen werden, sehr, sehr groß ist, vielleicht sogar größer, als wenn man das Dunkelfeld bei den Männern sieht. Wobei ich nicht behaupten möchte, auf keinen Fall missverständlich hier, dass irgendwie Frauen genauso häufig solche Taten begehen würden wie Männer. Das ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Also selbst wenn man die Dunkelfeldüberlegung mit einbezieht, ist davon nicht auszugehen. Trotzdem ist bei den Taten, die Frauen begehen, einfach wahrscheinlich insgesamt die Chance, dass die angezeigt werden, sehr gering. Und ich weiß das auch aus meiner Arbeit, weil wenn wir Biografiearbeit machen, was ein Teil unserer Arbeit ist, erst mal zu gucken, wie hat sich die Person entwickelt, wie wurden bestimmte Persönlichkeitseigenschaften auch entwickelt, dann schauen wir uns sehr genau an wie das Lebensumfeld der Person war, welche sexuellen Erfahrungen sie auch gemacht hat, besonders bei natürlich Sexualdelikten relevant, da hatten wir immer wieder Geschichten, wo männliche Personen Missbrauchserlebnisse durch weibliche Personen hatten in ihrer Kindheit und Jugend und es nicht als solches verstanden haben, weil Frauen sind ja keine Täterinnen. Und ich erzähle das immer wieder, weil diejenigen, wenn sie bei uns sind, von uns erklärt bekommen, dass das Missbrauchshandlungen sind. Und diejenigen hatten das gar nicht mal so wahrgenommen. Also die Klassiker, die ich erzähle, weil das sehr nachvollziehbar ist, da war der Mann, der in der Grundschule in seinem Zimmer schlief, während seine Eltern eine Party gemacht haben, bei der alle Erwachsenen sich ziemlich betrunken haben und irgendwann kam eine Frau Mitte 20 in sein Kinderzimmer mit einem Pinnchen voller Wodka und sagte "hier Junge, du bist ja schon groß und das ist unser Geheimnis". Dann hat sie diesem Grundschüler ein Pinnchen Wodka gegeben, wo man sich schon vorstellen kann, welchen Effekt das hat und dann hat sie ihm Zungenküssen beigebracht. Das ist sexueller Missbrauch. Und er hat halt gesagt "das war ein ekelhaftes Erlebnis, ich wollte da auch nie wieder dran denken", aber er hat nicht gewusst, dass man das sexuellen Missbrauch nennt. Und davon haben wir einige Geschichten. Und dann merkt man auch an der Art, wie diejenigen das erzählen, dass sie selbst zwar sagen, das ist eine Sache, an die ich nicht gerne zurückdenke, das war irgendwie eine ekelige Situation, aber sie verstehen vorher häufig nicht, dass es wirklich sexueller Missbrauch ist, weil sie sagen, es war doch eine Frau.


Biografiearbeit und psychologische Zusammenhänge

Alisha: Ja, interessant, wie sich das auswirkt. Du hast ja jetzt gerade genau diesen Teil schon mal erwähnt, diese Biografiearbeit oder Biografieanalyse, wie du es genannt hast, glaube ich.

Lydia: Genau, Biografiearbeit machen wir, genau. Und wir machen dabei auch die Sexualität. Natürlich gerade bei den Sexualstraftätern wichtig, das nennen wir Sexualanamnese. Da schauen wir ganz genau, wie sich sexuelle Entwicklungen und auch Erfahrungen und Situationen, welche da eine Rolle spielten.

Alisha: Interessant. Also erst mal ein sehr analytischer Teil in der Therapie. Kannst du uns da noch mal ein bisschen weiter mitnehmen in diese therapeutische Praxis? Was wären so die Schritte, die folgen würden? Was kann man überhaupt tun?

Lydia: Also wir schauen erst mal die Lebensgeschichte an, um zu gucken, welche Faktoren eben relevant waren. Sowohl vielleicht für gewisse Annahmen, was Sexualität angeht, oder auch möglicherweise prägende Erlebnisse. Und wir schauen auch, ob andere Faktoren wichtig sind, zum Beispiel, wenn die Personen sagen, dass sie eine sehr unauffällige Kindheit hatten, manchmal entdecken wir dann etwas, was wir emotionale Misshandlungen nennen und was auch den Menschen, die davon betroffen sind, häufig gar nicht so klar ist, weil wenn ein Kind geschlagen wird, dann kann man ja fragen, wurden sie als Kind geschlagen von ihren Eltern? Das kann man beantworten. Oder man kann auch nach sexuellen Übergriffen fragen. Auch das ist relativ klar den Menschen, was damit gemeint sein könnte. Und wenn man aber dann emotionale Misshandlungen thematisiert, dann würden Menschen sagen, was ist denn eine emotionale Misshandlung? Und das Konzept, was das ist, ist in der Bevölkerung noch nicht ganz so bekannt. Dementsprechend hatten wir zum Beispiel Menschen, die sagen, sie haben eine sehr unauffällige Kindheit. Jetzt mal zwei Beispiele: Da war ein junger Mann, der sehr überschüttet wurde mit materiellen Dingen von seinen Eltern. Also Übermaß - immer Markenklamotten und Spielzeug ohne Ende. Und er hat auch gesagt, er hatte eine Top Kindheit, seine Eltern waren großartig, haben alles für ihn getan. Unabhängig davon, was er später gemacht hat. Aber dann stellte sich halt heraus, dass die Eltern so eine Einstellung hatten von "mein Haus, mein Auto, mein Kind". Sie hatten aber zu ihrem Sohn eher eine Beziehung wie zu einem Statussymbol, als zu einem Kind. So erschien es uns, als wir uns das näher anschauten. Das heißt, die haben unter der Woche beide sehr viel gearbeitet und haben gesagt, ja, wir arbeiten doch für dich, damit du diese tollen Sachen hast. Sei doch mal dankbar. So kam er auch bei uns an. Er ist ja dankbar, dass seine Eltern das alles für ihn getan haben. Und das tolle Haus und das tolle Auto. Und am Wochenende waren sie halt erschöpft und Papa wollte Fußball spielen. Und die Mama wollte halt irgendwelche anderen Dinge machen. Und dann haben sie ihn immer mit irgendwelchen Freunden und Bekannten auf Wochenendausflüge geschickt, sogar in Urlaubsorte, so nach dem Motto, nimmt unseren Sohn doch mit, ist doch super mit den Kindern. Es machte im Gesamtbild den Anschein, als hätten sie nicht allzu viel emotionale Bindung zu diesem Kind gehabt, bis auf die Tatsache, dass es schöne Klamotten hatte und stolz sein konnte, immer mit seinen Sachen angeben zu können. Und diese strange Art von Beziehung hat sich sogar bis ins Erwachsenenalter fortgeführt. Das konnte man sogar feststellen in der Interaktion zwischen den Eltern und diesem Mann, als er schon erwachsen war. Und das ist etwas, was demjenigen nicht klar war, dass er schwer bindungsauffällig geworden ist. Also man könnte auch sagen, recht unfähig, eine normale Bindung zu leben, zu wem auch immer, weil er eine normale Bindung nie erlebt hat. Und trotzdem war er in diesem perfekten Haus mit dieser scheinbar perfekten Familie und hat nicht verstanden, dass ihm aber dieses Aufwachsen nicht gut getan hat. Und jetzt geht es aber auch nicht darum zu sagen, oh, soll man jetzt Mitgefühl für den haben oder so, denn darum mir gar nicht, sondern mir geht es darum, dass das Effekte hat auf die Art, wie ein Mensch mit seinen Gefühlen und mit seinen Mitmenschen umgeht. Und das kann halt dazu führen, dass es ihm leichter fällt, als Erwachsener sehr egozentrische Entscheidungen zu treffen und halt keine normalen Beziehungen führen zu können. Und er versteht dann vielleicht gar nicht, dass es mit solchen Faktoren zu tun hat. Oder eine andere, weniger plakative Kindheit von jemandem, der viele Geschwister hatte und wo die Eltern halt nicht viel Geld hatten und viel arbeiten mussten tatsächlich, damit sie all diese Kinder versorgen konnten - allein materiell - und dann wurde auch noch der Vater krank und die Mutter musste nun allein für die Familie sorgen und die Kinder versorgen und den kranken Mann pflegen und war natürlich am Maximum ihrer Kapazitäten über längere Zeit. Und er war halt irgendwo in der Mitte dieser Kinderreihe und war einfach auf sich gestellt. Also am Anfang kam er an und hat gesagt "ja meine Kindheit war super, ich hatte so viel Freiheit, ich konnte den ganzen Tag draußen spielen und ich habe auch keinen Ärger gekriegt, wenn ich zu spät nach Hause kam". Aber naja, die Grenze zwischen Freiheit und Verwahrlosung hatte er nicht so im Blick. Und seine Mutter war froh, dass er halt scheinbar keinen Ärger macht, dass er immer auf sich aufpasst, immer schön nach Hause kommt. Und das war eine Familie, in der es auch wenig Möglichkeiten gab, über Gefühle zu reden. Also er hat gesagt, "Gefühle? Reden? Was? Wir haben über gar nichts geredet. Ja, wir haben geguckt, dass wir abends nach Hause kommen und gut war". Also es gab keine tiefere Interaktion auch miteinander, auch wieder aus anderen Gründen. Und das war jemand, der viele Selbstwertprobleme hatte in der Pubertät und keine Ansprechpartner. Und der hat diese ganzen Selbstwertprobleme mit sich ausgemacht und das hat später begünstigt, dass er sich halt auch kriminellen Kreisen angeschlossen hat, wo er einerseits Zugehörigkeit und dann auch Selbstaufwertung erfahren hat. Und auch das ist keine Ausrede. Wir sagen immer, eine Erklärung ist keine Entschuldigung, aber es gibt Faktoren, die die Weichen möglicherweise ungünstig verschieben. Und das sind zwei Menschen, die ankamen und gesagt haben, meine Kindheit war großartig, meine Familie ist großartig und ich habe keine Ahnung, warum ich am Ende jetzt hier sitze viele Jahre, aber in Wirklichkeit hat das mit meiner Biografie gar nichts zu tun. Später war relativ klar, dass es zumindest schon ein bisschen auch was damit zu tun hatte.

Alisha: Ja. Und das ist dann etwas, was hilft, dass man quasi die Erkenntnis darüber bekommt, "okay, das hatte was mit meiner Kindheit tatsächlich zu tun". Ist das der erste Schritt, den man in der Therapie machen muss? Oder wie geht das weiter? Wie kann man diesen Menschen denn wirklich helfen?

Lydia: Genau, bei der Rückfallprävention müssen diejenigen erst mal verstehen, warum sie Grenzen überschritten haben. Sonst hätten sie keine schweren Strafstaten begangen, die die meisten anderen nicht überschreiten. Und sie haben Eigenschaften, die es ihnen ermöglicht haben, diese Grenzen zu überschreiten. Und diese Eigenschaften kann man halt erst mal aus der Entwicklung der Biografie, wie die Persönlichkeit geformt wurde und eben wie sie sich dann immer weiter dann entwickelt haben, ableiten. Und es geht auch nicht darum, dass sie irgendwann hingehen und ihren Eltern sagen "oh, ihr habt was falsch gemacht und deswegen sitze ich hier". Das ist auch gar nicht unser Anspruch und das ist auch gar nicht der Sinn der Sache, sondern es geht einfach darum zu verstehen, okay, damals gab es ungünstige Erfahrungen, die die Persönlichkeit in eine bestimmte Richtung mitgeprägt haben und daraus resultierten Eigenschaften. Und das Problem ist, wenn die Eigenschaften im Erwachsenenalter dann relativ fest sind. Also jemand zum Beispiel prinzipiell keine normalen Beziehungen führen kann. Weil er entweder ständig auf Distanz geht oder halt so Nähe-Distanz-Problem hat, also entweder klammert oder Leute von sich wegschiebt. Leute, die dann zum Beispiel auch, wenn sie Probleme haben, nicht drüber reden können oder besonders bei den männlichen Gewalttätern immer wieder Selbstwert. Ein ganz großes Thema, wenn Situationen auftreten, die den Selbstwert irgendwie ankratzen…

Alisha: Also zum Beispiel, wenn man einen Korb bekommt...

Lydia: Genau. Oder was wir auch ein paar Male hatten, diejenigen sind in Partnerschaften, werden arbeitslos, kommen in Finanznot, wollen auf keinen Fall zugeben, dass sie in Finanznot kommen, tun so, als würden sie weiter zur Arbeit gehen und machen Überfälle. Hatte ich mehrfach solche Stories. So Menschen, die dann nicht gelernt haben, über Probleme zu reden und auch über ein Problem zu reden als Schwäche wahrgenommen haben und die einzige Emotion, die ein Mann zeigen darf, ist Wut oder Aggression, aber auf keinen Fall Schwäche, Hilflosigkeit. Und das sind so Faktoren, die gerade im Gewaltbereich eine Rolle spielen können, immer mal wieder in verschiedenen Biografien. Das heißt, am Ende sollen die verstehen, warum habe ich Eigenschaften, die dazu beitragen, dass ich bestimmte Fehler wiederhole. Gerade diejenigen, die dort in der sozialtherapeutischen Anstalt sitzen, da haben wir einige, die sagen, ja, ich war das erste Mal ein paar Jahre im Knast und dann habe ich mir gesagt, ja, nächstes Mal machst du alles anders und du machst ja jetzt hier eine Ausbildung und dann wird alles gut. Und dann komme ich raus, habe wirklich vorgehabt, dass ich jetzt arbeiten gehe und alles wird gut. Ja, und dann ging es langsam schief, Job verloren, nicht so schnell neuen gekriegt, Partnerin nicht gesagt, dass ich keine Kohle habe, angefangen, mir Geld zu leihen, Schulden, überlegt, nochmal einen kleinen Raubüberfall und so. Also das ist so ein Beispiel von vielen. Und dann saß ich zum zweiten Mal da und dachte "verdammt, das war doch gar nicht so beabsichtigt. Wie ist denn das passiert?" Das ist auch wieder so ein Klassiker. Und dann kommen die nochmal raus und wenn die unbehandelt sind, dann fallen die immer wieder bei bestimmten Risikosituationen in dieselben Muster zurück. Zumindest diejenigen, die halt solche langen Karrieren von Straftaten haben. Das ist so. Das kann man nicht auf alle Straftäter projizieren, aber gerade bei den Gewaltstraftätern, die halt solche langen Kriminalitätskarrieren haben, sehen wir das. Und dann sagen die "ich komme wieder raus und eine Weile geht es gut und dann geht wieder was schief und dann geht der ganze Kreislauf wieder los". Ja und irgendwann droht ihnen dann die Sicherungsverwahrung oder die wird ausgesprochen und dann haben die erst mal sehr viel Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Und dann sagen die "schade, dass ich nicht vor 20 Jahren mal gelernt hätte, dass das was mit mir zu tun hat, mit meinen Eigenschaften. Weil ich habe immer gedacht, ich reiße mich zusammen und das wird gut. Und dann habe ich mich jedes Mal gewundert, dass das aber irgendwie nicht geklappt hat." Weil Menschen in ihren Mustern feststecken, zumindest einige.

Alisha: Ich meine, das kennt natürlich irgendwie jeder von sich selbst auch. Dass man mit seinen eigenen Verhaltensmustern feststeckt, sicherlich nicht was Gewalttaten angeht. Aber wenn ich mir überlege, wie oft ich mir schon gesagt habe, keinen Zucker mehr zu essen. Und dann laufe ich an irgendwas vorbei, was lecker aussieht und habe es auch nicht hingekriegt. Also das ist natürlich an sich, glaube ich, ein total bekanntes Verhaltensmuster. Die Frage ist, was lehrt ihr jetzt den Tätern, dass sie damit tatsächlich besser umgehen können?

Lydia: In der Biografiearbeit wird schon mal klar, da gibt es ein paar ungünstige Muster, die sich halt entwickelt haben, aus Gründen. Dann ging die Laufbahn der ungünstigen Muster immer weiter und dann nehmen wir eben die, wir nennen es Risikogefühle und Risikogedanken und Risikoverhaltensweisen. Die extrahieren wir aus der Biografiearbeit. Zur Biografiearbeit gehört zunächst einmal, wie gesagt, die Kindheit und dann aber natürlich auch die genaue Analyse der Straftaten. Das heißt, wir machen gerade bei den Straftaten eine genaue Analyse, welche Faktoren im Vorfeld haben diese Entscheidung und diese Entscheidung begründet. Wir gucken uns also die Straftat sehr genau an und schauen bei den wirklich schweren Straftaten auch so wie ein Drehbuch. Also wir schreiben auf "das habe ich getan, währenddessen habe ich das gefühlt und das gedacht". Und das wird halt in so einer Art Tabelle wirklich genau auseinandergenommen. Und auch eben das Vortatverhalten und auch das Nachtatverhalten.


Therapieansätze

Alisha: Das finde ich total spannend, weil das hat so was super analytisches für so eine Tat, die ja in der Regel was schlimmes war, was irgendwie auch messy ist, und so scheinbar gar keinen Sinn und gar keine wirklich logische Reihenfolge hatte. Und ihr nehmt das auseinander und sie seziert es letztlich. Da bleibt dann auch nichts Geheimnisvolles mehr übrig.

Lydia: Ja, das ist genau der Punkt. Und diejenigen bekommen ja einerseits, gerade in der Sozialtherapie, Einzeltherapie und Gruppentherapie. In der Gruppentherapie ist der große Vorteil, dass das, was die in der Einzeltherapie schon lernen, sie nochmal darstellen und diskutieren mit anderen, bei denen es teilweise Parallelen gibt. Ähnliche Tätertypen haben ähnliche Gedankenmuster, ähnliche Gefühlsmuster, und wenn dann schon einer da sitzt und sagt "ja, genau, bei mir mir war das genauso und ich kenne das, wenn das und das, dann mache ich auch das und das". Und besonders diese Parallelen sollen denjenigen nochmal verdeutlichen, dass es halt logisch ist sozusagen, dass wenn sie bestimmte Schwächen haben und bestimmte Muster, dass dann immer wieder eben dieselben Verhaltensweisen bei bestimmten Aspekten ihres Lebens wieder aufkeimen. Und deswegen Gruppentherapie, also das ergänzt sich gegenseitig und wenn die dann die Tatanalyse machen, sowohl im Einzel- als auch in der Gruppe, ist das so ziemlich der unangenehmste Teil. Das ist auch nicht schön, soll es auch nicht sein. Und das ist Tätan immer unangenehm, weil sie dann ungeschönt draufschauen, ohne ihre Ausreden und ohne irgendwie "nein, da will ich gar nicht mehr drüber nachdenken". Ist auch übrigens ein häufiger Reflex, dass Täter in meinen beiden Arbeitsbereichen sagen "nein, ich will nicht über das Delikt reden. Auf keinen Fall will ich da genau hinschauen. Ich will darüber nicht mehr nachdenken". Also Täter sind in aller Regel nicht glücklich und stolz über ihre Taten, sondern ganz im Gegenteil, sie wollen es vergessen. Sie wollen so tun, als wäre es ein Ausrutscher und nur wegschauen. Aber wir erklären immer.

Alsiha: Gut, das wollen die Opfer natürlich auch gerne. Sie wollen auch nicht mehr drüber nachdenken. 

Lydia: Genau, aber das ist halt interessant, dass Täter eigentlich genau das Hinzuschauen und das ungeschönt Hinzuschauen, auch als sehr unangenehm empfinden. Aber das ist auch wichtig. Einerseits sich wirklich zu stellen, auch den Folgen und ungeschönt draufzuschauen, was die Person getan hat. Und natürlich, wir sagen, wenn sie nicht verstehen, was genau sie dazu bewogen hat, könnten sie es wieder tun. Und dieses "das passiert mir nicht noch mal" - das ist eine völlige Abwehr. Passieren, sagen wir mal, ist "Regen passiert", aber nicht eine Tat. Eine Tat haben sie getan und nicht, ja, man ist manchmal so, sondern ich. Also Täter sagen fast immer "ja, man ist ja manchmal in so einer schwierigen Situation und dann passiert einem das", statt zu sagen, "ich war in einer überfordernden Situation und dann habe ich das getan". Das fühlt sich ganz anders an, wenn man das so sagt. Näher. Und fast alle Täter neigen dazu, schon in ihrer Ausdrucksweise unbewusst eben die Tat und die Verantwortung von sich wegzuschieben und wir zwingen sie de facto dazu, in der Arbeit es an sich ranzulassen, die Verantwortung zu übernehmen und ungeschönt wirklich zu sehen "ich habe das getan. Das, das und das". Ja, also Tatanalyse ist immer sehr anstrengend für diejenigen und auch gerade im Gruppenkontext. Also stell dir vor, es ist nicht nur unangenehm, sich der Realität zu stellen, was du da genau gemacht hast, sondern du musst das auch noch von der Gruppe von Menschen präsentieren. Extrem unangenehm. Wie gesagt, gehört alles dazu. Also Tätertherapie ist kein irgendwie Spaziergang und auch nicht irgendwie angenehm oder so, also gar nicht.

Alisha: Ja, kann ich mir vorstellen. Soll es natürlich auch nicht sein. Und ist es dann dieses Gefühl, was den Menschen dann im Alltag später helfen wird? Dieses Unangenehme? Dass sie das mitnehmen?

Lydia: Also im besten Fall ist das ein Teil eines Therapieerfolgs. Wenn sie wirklich vor allem rational, ungeschönt sehen, was sie getan haben, ihre Verantwortung wirklich übernehmen können, das gelingt manchen mehr als anderen. Und wenn sie wirklich emotional auch sich schuldig fühlen, dann kann das helfen. Aber es ist nie so, als wäre das der einzige Aspekt, der hilft. So heißt es das Gesamtpaket. Wenn sie nämlich dann die Facetten der Tat verstanden haben und verstehen, wie das mit ihren persönlichen Risikofaktoren zusammenhängt, diesen Risikogefühlen, Gedanken, Verhaltensweisen, dann müssen sie aber natürlich auch noch ein paar andere Dinge lernen. Also dazu gehört logischerweise auch Opferempathie. Also sie müssen auch verstehen, die Tat aus der Sicht des Opfers zu beschreiben. Zum Beispiel kann man da so Methoden anwenden wie, dass diejenigen die Tat verbal vor der Gruppe zum Beispiel aus der Sicht des Opfers schildern, mit den Gefühlen und Gedanken, oder auch wie ein Tagebucheintrag schreiben. Daran kann man dann auch sehen, wie weit sie es auch kognitiv verstehen. Und bei einigen wirkt es emotional mehr als bei anderen, das ist halt unterschiedlich, wieviel emotional ein Mensch an sich ran lässt. Aber Opferempathie und die Folgen für Opfer sind natürlich auch ganz wichtig und ganz wichtig ist auch die Auflösung der kognitiven Verzerrungen.


Kognitive Verzerrungen

Alisha: Was sind denn kognitive Verzerrungen?

Lydia: Genau, die haben alle für sich Rechtfertigungen im Kopf und es ist wirklich ein Selbstbetrug. Weil Menschen wollen nicht in den Spiegel schauen und denken "ich bin ein böser Mensch, ich habe was ganz Schlimmes getan". Auch Täter mögen das nicht. Und dementsprechend haben sie Rechtfertigungen bei Missbrauch, zum Beispiel gibt es sehr bekannte Rechtfertigungen, dass so ein Täter sagt "ja, ich habe ja nicht ein Kind mit einem Messer in Wald gezerrt", sondern was die meisten Missbrauchstäter tun, ist emotionale Manipulation, Grooming des Opfers und des Umfelds. Und dadurch, dass sie also das Opfer und das Umfeld emotional manipulieren, ist natürlich das Kind dann gar nicht in der Lage, sich gegen dieses Ausmaß von emotionalem Druck zu wehren. Und solche Täter sagen dann zum Beispiel "ja, möchtest du nicht gerne das und das mal ausprobieren? Und wenn du mich lieb hast, ich würde mich sehr freuen, wenn du das und das machst". Und dadurch, dass diese emotionale Manipulation so stark wirkt, glauben die Täter aber im schlimmsten Fall, ja, das Kind macht das doch gerne.

Alisha: Oh Gott, ja.

Lydia: Ja, das ist wirklich schwer nachzuvollziehen, wenn man rational als sozusagen ganz rationaler Mensch draufschaut und sagt, das glaubt er doch nicht wirklich. Aber doch, diese Täter glauben das und die sagen ja man hört ja immer von diesen diesen bösen Menschen, die eben mit einem Messer halt wie gesagt jemanden wegzerren. Das ist ja eben eher statistisch sehr sehr selten der Fall bei Missbrauchstaten, sondern das was sie tun, dann sagen die "ich bin doch gar nicht so schlimm, ich habe doch keine körperliche Gewalt angewandt. Und das Kind hätte doch nein sagen können". Hätte es natürlich nicht, weil es natürlich maximal emotional unter Druck gesetzt und manipuliert wurde, aber der Täter sagt "Wieso, das Kind hätte doch sagen können 'ich will das nicht'" und auch eine weitere Strategie ist zu sagen "und das Kind hat mich doch danach immer noch lieb". Das ist besonders perfide, weil natürlich die zwischenmenschliche Bindung für die Tat ausgenutzt wird und das Kind will die Bezugspersonen nicht verlieren und das ist ja gerade das furchtbare, dass die emotionale Bindung für den Missbrauch ausgenutzt wird. Und das sind so kognitive Verzerrungen, die wir sehr oft sehen bei jetzt z .B. Missbrauchstaten. Aber auch bei allen Taten gibt es immer Verzerrungen, also auch bei Gewalttaten, so Sachen wie "wäre ich da nicht irgendwie... hätte mein Arbeitgeber mich nicht gefeuert. Und hätte ich nicht sowieso schon so viel Mist erlebt im Leben, dann hätte ich vielleicht anders reagiert, aber ich wollte ja auch gar nicht irgendwie die alte Frau umbringen bei dem Raubüberfall, hätte die mir doch einfach ihre Handtasche gegeben. Aber dann hat die auf einmal an der Handtasche gezerrt und dann musste ich die irgendwie schlagen und dann hat sie angefangen zu schreien und ich hatte ein Messer dabei und dann war die tot. Also mein Arbeitgeber, die Reaktion der alten Frau, ganz ehrlich, ich wollte das doch gar nicht."

Alisha: Ja, es sind immer die anderen schuld. Also kognitive Verzerrungen, verstehe ich wirklich, absoluter Selbstbetrug, hat wahrscheinlich auch jeder von uns in gewisser Art und Weise, ne? Also man hat ja ganz oft irgendwie rückblickend auch eine Erklärung für sein Verhalten, warum man irgendwas gemacht hat. Aber bei den Tätern führt es natürlich wesentlich weiter. Und muss dann, wenn ich das richtig verstehe, aufgelöst werden, um eigentlich einen Therapieerfolg erzielen zu können tatsächlich.

Lydia: Genau, solange diejenigen sich rechtfertigen, übernehmen sie nicht die Verantwortung, weil sie gar nicht klar sehen. Und viele der Ausreden sind deswegen gar nicht nur für das Umfeld, sondern auch für die Menschen selber. Aber das Gute ist natürlich, wenn die kognitiven Verzerrungen einmal abgefallen sind, dann sehen diejenigen die Tat und das, was sie getan haben, so wie wir es sehen, im besten Fall. So, das ist erst mal sehr schmerzhaft und das soll es auch sein. Also im besten Fall sehen die ungeschönt, dass sie all das getan haben und sind dann ähnlich entsetzt wie jemand, der es von außen betrachtet. Und wenn das wirklich funktioniert, auch das ist natürlich nicht bei jedem möglich, aber das ist dann sehr präventiv, weil die kognitiven Verzerrungen, wenn die einmal aufgelöst sind, ist es schwer, sich die wieder anzueignen für Menschen, wenn die wirklich tiefgreifend abgebaut sind. Und das ist halt ganz wichtig. Und wir haben dann auch bei Wiederholungstäter etwas, was wir den Tatkreislauf nennen, wo wir dann also eben diese Tatanalyse nehmen und schauen, was war eben vor der Tat, was war nach der Tat und wie hat sich derjenige gerechtfertigt, dass er wieder in dieselbe Entscheidung gegangen ist, die wieder zu derselben falschen Verhaltensweise geführt hat. Also Tatkreislauf ist auch bei Wiederholungstäter natürlich ein wichtiger Punkt. Und dann haben wir am Ende einen Rückfallprofilaxe-Plan. Das ist dann das Resümee von allem, was diejenigen gelernt haben über lange Zeiträume, also die Risikofaktoren, Gefühle, Gedanken, Verhaltensweisen, eventuell auch Risikopersonen, ist gerade bei Leuten, die halt in kriminellen Milieus sehr verankert waren, wichtig, das nochmal zu definieren, dass die da nicht wieder reinkommen. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass diejenigen, die in kriminellen Milieus sich aufhalten, sagen "egal in welche Stadt ich komme, es dauert keine 10 Minuten und ich bin wieder im Milieu". Man sieht sich, man weiß, wie man tickt, bam, wirklich. Also das ist sehr, sehr faszinierend. Jedenfalls gibt dann es natürlich Gegenmaßnahmen. Die müssen also bei ihrem Rückfallprofilaxe-Plan im ersten Schritt erkennen, was sind Risiken, die eigenen Risiken? Aber dann muss man ja gucken, was mache ich denn stattdessen? Also wenn ich jetzt merke, da kommt so ein Risikogefühl oder ich fange wieder an, eine Risikoverhaltensweise zu zeigen - wie kann ich gegensteuern? Und dann gibt es halt die präventiven Maßnahmen, die diejenigen dann anwenden. Sie sollen also erstmal erkennen die Gefahr, oh ich bin wieder hier in diesem Risikofeld. Ich habe aber gelernt, jetzt statt das, was ich früher gemacht habe, eher etwas anderes zu machen. Und ganz wichtig ist natürlich reden mit Vertrauenspersonen. Im besten Fall wird auch ein soziales Umfeld eingebunden, wenn es denn existiert, dass dieses auch im Bilde ist über eben diese Rückfallpräventionsaspekte. Und dass die Person dann zum Beispiel auch sagen kann, oh ich bin jetzt gerade wieder in so einer schwierigen Situation. Und diejenigen können sich auch, wenn sie Krisen haben, auch melden bei ihren Institutionen, wo sie vorher angebunden waren. Also gerade auch in der Ambulanz ist es ja nochmal was anderes, weil diejenigen, die wir da haben, die leben ja nun mal in Freiheit. Wir bringen denen bei, mit den Herausforderungen in Freiheit umzugehen. Da rufen manche schon auch nach Jahren an und sagen, ich bräuchte jetzt nochmal ein Gespräch, weil gerade ist so eine schwierige Situation und wäre cool, wenn wir noch mal sozusagen reden könnten, das Angebot steht.

Alisha: Also Kommunikation ist ein ganz wesentliches Mittel, um dem dann entgegenzuwirken in der Situation.

Lydia: Das ist ganz wichtig, genau und die meisten von diesen Menschen haben große Probleme mit einer ehrlichen Kommunikation, also umso schwieriger die Situation, umso schwieriger für sie, darüber adäquat zu kommunizieren. Also an dieser Stelle nochmal: ich rede jetzt die ganze Zeit von Tätern in männlicher Form, weil ich, wie ich eingangs schon erwähnte, in meiner Gesamtlaufbahn zu maximal überwiegender Mehrzahl mit Männern gearbeitet habe. Also in der sozieterapeutischen Anstalt sind ohnehin nur Männer und in unserer Ambulanz waren die wenigen Fälle von weiblichen Personen, die wir hatten, also im statistischen Sinne quasi gar nicht darstellbar.

Alisha: Ich glaube, in dem Fall ist es dann noch okay, jetzt einfach nur mal die männliche Form zu verwenden tatsächlich. Du hast jetzt sehr viel über die Rückfallprävention erzählt, was ich sehr, sehr spannend finde. Wir aus juristischer Perspektive interessieren uns natürlich schon auch regelmäßig für Rückfallrisiko-Evaluation. Also wie wahrscheinlich ist es, dass jemand rückfällig wird? Sowas spielt ja auch mal eine Rolle, zum Beispiel bei der Frage, ob eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann oder nicht. Das ist also für die juristische Bewertung interessant. Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand rückfällig wird? Wie läuft die Evaluation auf der kriminalpsychologischen Seite? Du hast so einen schönen Satz in unserem Vorgespräch gesagt, der lautete, Risiko-Evaluation ist nichts anderes als Mathematik. Deshalb liebe ich das so. Da muss ich natürlich fragen, was sind denn deine Faktoren, die hier in die Gleichung reinkommen?


Risikoevaluation, Behandlungen und Rückfallrisiken

Lydia: Also um genau zu sein, wäre das ein eigener Fachvortrag und um es nur sehr kurz zusammenzufassen, mein Alltagsjob ist ja eben nicht. Zum Beispiel was psychiatrische Gutachter vor Gericht machen, die dann eben relevante Einschätzungen dieser Art dann auch bei laufenden Prozessen durchführen, sondern ich muss zum Beispiel in meinen laufenden Fällen auch sagen, wie gut die Methoden, die wir anwenden, bei denjenigen auch wirklich Effekte zeigen. Und das wird sich am Ende dann auch bei einem Abschlussbericht dann erweisen. Also ich muss am Ende einen Abschlussbericht schreiben, sowohl in der Ambulanz als auch zum Beispiel in der SOTA bei der Gruppenarbeit und dann schreibe ich halt, ob ich den Eindruck habe, aus welchen Gründen welche der Faktoren, die wichtig waren, die eben die Risikofaktoren für die Person sind, die Person bearbeiten konnte oder nicht gut bearbeiten konnte und ob das dann im Gesamtbild halt jetzt also dazu führt, dass wir angesichts der Arbeit davon ausgehen, dass hier das Rückfallrisiko gesenkt werden konnte oder auch nicht. Und ich würde direkt sagen, es gibt einen Fall, der das leider auf eine tragische Art illustriert. Wir hatten einen Menschen, der hat mehrfach vergewaltigt und ist dann nach einer Haftstrafe bei uns in der Ambulanz angekommen. Und ich habe dann auch im Rahmen der Ambulanzarbeit relativ schnell gesehen, dass er eine emotionale instabile Persönlichkeitsstörung aufwies. Und an dieser Stelle sei gesagt, dass die allermeisten Menschen, die eine solche Persönlichkeitsstörung aufweisen, keine Straftaten begehen. Aber es kann halt bei manchen Straftätern, wenn eine solche Störung bei denen zu finden ist, schon einen Zusammenhang bestehen zwischen Straftaten und auch Situationen, die zu Straftaten führen können. Ich habe dann gesagt, dass bedauerlicherweise, als er eben in der Haft war, keine hinreichende Behandlung dieser Problematik erfahren hat. Und es gibt bei der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, die ich auch wirklich durch Testung ganz klar bei ihm festgestellt habe, ein Therapieprogramm. Das nennt sich dialektisch-behaviorale Therapie. Das wird halt in manchen Kontexten auch gezielt für Straftäter angewandt. Es wäre bei demjenigen sicherlich wünschenswert gewesen, er hätte das gehabt, aber aus unterschiedlichen Gründen hat er eine solche Behandlung nicht gehabt. Und ich habe gesagt, dass er dringend eine solche spezifische Behandlung braucht. Das ist etwas, was wir auch nicht in der Ambulanz anbieten, weil das ein ganz spezielles, längeres Therapieprogramm ist für Menschen mit emotional instabiler Persönlichkeitsstörung, wo sie halt lernen, ihre Emotionen adäquat zu regulieren. Bei ihm war halt das Problem, dass er definitiv traumatisiert war aufgrund seiner Kindheit. Das war sicherlich die ursprüngliche Grundlage der Entwicklung dieser Störungen. Und es war klar, dass immer wenn eine enge Beziehung auf eine Art scheiterte, die bei ihm ein Gefühl von Kontrollverlust auslöste, das relativ klar zu erkennen war, dass er dann zu Gewalthandlungen, also auch zu solchen Vergewaltigungshandlungen, übergehen könnte. Und ich habe gesagt, dass er dieses spezielle Therapieprogramm machen soll. Ich hatte ihm auch eine Stelle genannt, wo er das hätte machen können, obwohl er ambulant war, weil ich gesagt habe, solange eine bestimmte Beziehung stabil ist, fühlt er sich stabil, sieht überhaupt kein Problem in seinem Leben, hat das Gefühl, alles ist im Griff. Aber in dem Moment, wo diese Beziehung enden wird und er diesen Kontrollverlust widerspürt, da wird er vermutlich so dekompensieren, dass ein hohes Rückfallrisiko besteht. Und er hatte ständig Ausreden, warum er keine Zeit hat, weil er jetzt arbeitet und dies und jenes unstabil ist und das gar nicht braucht und es so viel Wichtigeres gibt. Und ich habe gesagt, auf dieser Grundlage können wir ihn hier in dieser Ambulanz nicht halten, weil er ganz eindeutig das, was aus meiner Sicht gerade oberste Priorität hat, nicht umsetzt. Das nenne ich eine inhaltliche Verweigerung der Mitarbeit, habe ich dem Bewährungshelfer auch mitgeteilt. Der Bewährungshelfer ist ja dann derjenige, der das dann dem Gericht melden muss. Also er hat eine Therapieauflage und ich sage, die inhaltliche Mitwirkungsverweigerung führt zu der Beendigung unseres Therapieangebotes. Und ich habe ausführlich in dem Abschlussbericht auch geschrieben, dass ich das, was ich gerade hier erläutert habe, sehe und das aus meiner Sicht ein hohes Rückfallrisiko besteht, wenn eben der besagte Fall eintritt. Und wenige Monate später bekam ich dann die Aufforderung, zum Gericht zu kommen, weil derjenige auf genau die Art rückfällig geworden ist. Und dann durfte ich vor Gericht in Anwesenheit der begutachtenden Person erklären, wie ich zu meinem Abschlussbericht gekommen bin. Das war dann natürlich für das Gericht sehr wichtig, weil sie gesehen haben, dass ich das genauso prognostiziert habe. An dieser Stelle ist das halt der Punkt, das ist kein Bauchgefühl, was wir machen. Im Gegenteil, wenn ich sehe, dass die Deliktfaktoren hier in engem Zusammenhang stehen, mit dieser klar erkennbaren Störung und dass eben der Ablauf auch so logisch nachvollziehbar ist, wie ich ihn gerade geschildert habe, dann ist es einfach wahrscheinlich, dass wenn dies eintritt, das die Folge sein wird. Und genau das habe ich auch so in Wahrscheinlichkeit ausgedrückt.

Alisha: Das finde ich schon ganz schön irre, dass man das eigentlich dann doch tatsächlich wie eine mathematische Gleichung in gewisser Weise auch an der Stelle vorhersehen kann, weil das eben doch Faktoren sind, die sich in der Form immer wieder wiederholen werden. Ja, Wahnsinn.

Lydia: In dem Fall war das im Gesamtbild. Wir hatten natürlich wahnsinnig viele Unterlagen von ihm und im Gesamtbild konnte ich das auch, ich habe da sehr lange auch ausgesagt vor Gericht, soweit ich mich erinnere, war das einfach schlüssig, dass das also alles so auch für mich klar war, dass das einfach die wahrscheinlichste Variante sein wird. Und an dieser Stelle muss ich sagen, es gibt halt viele Risikofaktoren und man muss halt in jedem Einzelfall schauen. Es gibt ja einmal so was wie eine Basisrückfallrate, also falls man den Begriff noch nie gehört hat, für Delikte. Jetzt mal sehr plakativ, wo man so sagt Drogendelikte haben eine Basisrückfallrate von etwas mehr als 50 Prozent oder Raubdelikte haben eine Basisrückfallrate von 10 bis 25 Prozent ungefähr. Also das ist jetzt eine ältere Statistik, aber ich denke mal, dass die sich jetzt nicht sehr, sehr stark verändert haben und bei Mord und Totschlag ist die Basisrückfallrate bei 0 bis 3 Prozent. Das hängt damit zusammen, dass viele solcher Delikte aus einer spezifischen Täter-Opfer-Dynamik entstehen und die Chance, dass diese sich wieder genau so wiederholt ist dann nicht so wahrscheinlich. Viele Menschen würden das gar nicht glauben, dass die Basisrückfallrate da eher gering ist.

Alisha: Ja, das denke ich tatsächlich auch. Ich glaube, dass viele denken würden, wer einmal gemordet hat, der macht das auch wieder. Aber interessant, dass es da gar nicht so ist und auch da uns wieder die Statistik und Mathematik was ganz anderes tatsächlich sagt.

Lydia: Ich möchte abschließend etwas zu Prognoseinstrumenten bezogen auf die Rückfallwahrscheinlichkeit sagen. Da gibt es verschiedene Instrumente, die wissenschaftlich auch entwickelt worden sind und auch es kontinuierlich wird an diesem Thema geforscht. Und es gibt ein schönes Übersichtsbuch, was verschiedene Prognoseinstrumente zeigt. Und dieses Buch heißt 'Prognosen in der forensischen Psychiatrie, ein Handbuch für die Praxis' von Norbert Nedopil. Das ist sozusagen ein Klassiker und ein Buch, wo der interessierte Jurist oder die interessierte Juristin einfach mal reinschauen kann, welche Instrumente sind denn so gängig, wie funktionieren die. Und ich glaube, da kann man sich einen guten Eindruck machen eben von diesen Risikofaktoren und nach welcher Logik die eben mit diesen Prognoseinstrumenten festgestellt werden. Das ist glaube ich sehr hilfreich, um das Gebiet so ein bisschen zu verstehen.


Umgang mit Hochstaplern und Lügnern

Alisha: Okay, danke für den Buchtipp. Wir haben jetzt super viel über Gewalttäter gesprochen und ich möchte ganz gerne zum Schluss nochmal auf eine andere Tätergruppe zu sprechen kommen, weil du ein Buch geschrieben hast, was jetzt erst dieses Jahr erscheinen wird und das lautet 'Betrüger, Hochstapler, Blender'. Ja, jetzt kann man sich natürlich denken, hier geht es in irgendwie einer Weise um Manipulation, um Schein. Und ich glaube, wir haben alle auch bestimmte Personen im Kopf, die wir darunter, juristisch sagt man, subsumieren würden. Also wen wir da sehen würden, glaube ich, hat jeder irgendeine Person bestimmt schon im Kopf. Aber du hast dich dem ganzen Thema natürlich wissenschaftlich genähert. Also kannst du vielleicht mal definieren, was macht den Betrüger, Hochstapler und Blender aus?

Lydia: Ja, das ist ja gar nicht das Hauptthema meiner Arbeit. Denn ich arbeite ja im Alltag mit eben Sexual- und Gewaltstraftätern. Allerdings, auch in diesem Bereich, treffe ich immer wieder auf Menschen, die sehr deutlich manipuliert und hochgestapelt haben, in unterschiedlichem Ausmaß. Manchmal hat das sogar mit den Delikten zu tun. Also manchmal kann es sogar sein, dass jemand, der wirklich eine größere Lebenslüge aufgebaut hat und dann von einer Person aus dem nahen Umfeld droht, aufgedeckt zu werden, im schlimmsten Fall sogar zu einer schweren Gewalttat übergehen könnte. Das ist natürlich nicht die Regel, aber mit solchen Fällen hatte ich schon beruflich zu tun. Und ich fand es sehr interessant, die Frage, warum eigentlich Menschen, die derartig dreist durchs Leben gehen, also jetzt auch ohne Gewaltstraftaten, aber die wirklich große Lebenslügen lange leben, warum die in vielfältigen Bereichen sehr lange erfolgreich sind. Und ich habe den Eindruck gewonnen über die Jahre, dass die Dunkelziffer in diesem Bereich sehr, sehr hoch ist. Also ich war ehrlich gesagt persönlich selbst ein bisschen überrascht, als ich mich immer mehr mit diesem Thema beschäftigt habe, wie einfach das für einige Menschen zu sein scheint, dauerhaft, unentdeckt, große Lebenslügen eben aufrechtzuerhalten und dadurch auch andere zu schädigen - emotional, finanziell, auf ganz vielen Ebenen. Und ein ganz großes Thema ist natürlich auch Manipulationsstrategien, denn viele der Straftäter, mit denen ich arbeite, haben natürlich unterschiedliche Manipulationsstrategien gehabt, die sie gelernt haben, teilweise unbewusst sogar, um halt immer wieder mit Dingen durchzukommen. Und ich fand einfach dieses ganze Konstrukt, wie manipulieren Menschen Menschen und wie schaffen es manche Menschen mit großen Lebenslügen sehr lange durchzukommen, da mal ein bisschen zu schauen, wie kann ich wissenschaftlich erklären, wie die das machen, damit Menschen nicht so leicht darauf reinfallen. Weil wenn man etwas versteht, ist es leichter, auch etwas dagegen zu tun.

Alisha: Das ist ja dein Therapieansatz, das heißt, gibt es da sowas wie einen Schnellcheck oder einen Tipp, den du hast, wie man sich auch vor manipulativen Menschen schützen kann?

Lydia: Also ich muss sagen, ich habe dazu ein vertiefendes Video. Ich weiß nicht, ob ich hier Schleichwerbung dafür machen kann.

Alisha: Ich hab's mir angeguckt, von daher würde ich es an der Stelle empfehlen. Du darfst es ruhig benennen.

Lydia: Also, das Video ist auf meinem YouTube-Kanal. Mein YouTube-Kanal ist einfach Lydia Benecke bei YouTube. Das Video heißt "Hochstapler und Gaslighting". 57 Minuten, 47 Sekunden. Da habe ich verschiedene Themen aufgemacht, unter anderem über die Harry Potter Figur Gilderoy Lockhart. Der ist ja eine fiktive Gestalt, in der man aber recht viele realistische Dinge wiederfindet, wenn auch auf einer natürlich märchenhaft ausgeschmückten Ebene. An dieser Figur angelehnt habe ich so ein paar Szenen benannt, was man davon im echten Leben auch feststellen würde bei Menschen, die eben hochstapeln und blenden. Und Gaslighting ist auch ein spannendes Thema, weil ich das in meinem Buch über Sadisten auch recht ausführlich beschrieben hatte. Und dieses Thema ist seither auch in der öffentlichen Wahrnehmung etwas präsenter als damals, als ich das Buch schrieb. Und das ist eine Manipulationsstrategie, die in Beziehungen wahnsinnig beeindruckende und auch erschreckende Effekte haben kann. Und auch da sollten Menschen halt informiert sein. Denn ich glaube, auch da kann zu wissen, dass es sowas gibt, schon präventiv ein bisschen wirken. Und im Kern sage ich immer Menschen, die hochstapeln und manipulieren, machen die Erfahrung, dass sie damit durchkommen, weil sie typischerweise zwei Eigenschaften haben müssen und zwar möglichst wenig Angst vor Entdeckung und außerordentlich von sich selbst überzeugt. Und tatsächlich, Lügenforschung weist auch darauf hin, dass diese Mischung - sehr selbstsicher und sehr wenig Angst erwischt zu werden beim Lügen - Menschen zu erfolgreichen Lügnern macht, weil er uns anderen Menschen, sage ich mal, wenn wir so jemandem begegnen, in seiner ganzen Art aufzutreten, uns tief in die Augen schauen wird, total freundlich lächeln wird, uns auch zuhören wird und uns Komplimente machen und sich für uns interessieren wird. Also all diese Dinge, die eine angenehme Interaktion ausmachen. Und die sehr gut manipulativen Menschen, die haben genau das drauf und die merken einfach, das funktioniert und viele von denen wissen gar nicht, warum es funktioniert. Die haben sich jetzt nicht Studien durchgelesen, was besonders effektive Lügner ausmacht, sondern die bringen so ein gewisses Grundpotenzial mit und merken einfach, ja, ich mach das, ich kann das, funktioniert. Learning by doing.

Alisha:  Also man sollte Lügner viel öfter zeigen, dass sie lügen.

Lydia: Ja, das Problem ist, selbst wenn man die erwischt, sind sie wahnsinnig schnell auf Zack, Ausreden zu erfinden. Da hatte ich schon einige Klienten, wie wir sie nennen, die wirklich echt viele Beispiele geliefert haben und die dann auch mit einem gewissen Stolz erzählen. Ja, und wenn mich dann einer hier in die Enge treiben wollte, dann habe ich einfach so und so und dann erklären die auch, ohne dass sie es immer selber verstehen, dass sie emotional manipulieren. Also zum Beispiel hatte ich mal mit einer Person zu tun, der eine sehr schwere Straftat begangen hat und dann verhört wurde. Diese Person hat sich eigentlich als sehr biedere und freundliche Person bis dato dargestellt und derjenige sagte "naja dann wurde ich von der Polizei gefragt 'haben sie etwas mit diesem Sachverhalt zu tun?' Und dann habe ich ganz so ein bisschen mit einem Hundeblick habe ich so hochgeguckt und habe gesagt, glauben sie das wirklich?" Und er hat gesagt "ich habe doch gar nicht gelogen, ich habe nicht gesagt, ich habe nichts damit zu tun. Ich habe einfach gefragt, ob die das wirklich glauben und dann sind die zur nächsten Frage übergegangen. An keiner Stelle habe ich die Polizei belogen."

Alisha: Oh Gott, oh Gott, oh Gott, also es scheint mir doch wahnsinnig schwer zu sein, mit solchen Leuten umzugehen, aber was ich auf jeden Fall bei dir rausgehört habe ist, man sollte öfter mal hinterfragen, was mein Gegenüber da tatsächlich gerade erzählt.

Lydia: Absolut. Ich sage immer genau, das habe ich auch in dem Vortrag gesagt, gerade bezogen auf Menschen, die jetzt noch nicht mal groß straffällig sind, sondern die sehr, sehr stark eben hochstapeln, wäre ja eben so zu tun, als hätte die Person Fähigkeiten, Erfahrungen, Qualifikation, die sie nicht besitzt. Und da hilft es immer sehr genau, Fragen zu stellen zur Biografie. Zum Beispiel eben, wenn jemand sagt, er hat für eine tolle Institution gearbeitet, dann würde ich fragen, in welcher Position, wie lange, mit wie vielen Klienten hatten sie da zu tun? Denn man kann ja auch mal ein Wochenseminar irgendwo besuchen und dann sagen, ich habe da gearbeitet. Also so. Also der Trick ist wirklich zu gucken, ob die Leute an der eigentlichen Frage vorbei reden. Das Interessante ist, wenn manipulative Menschen reden, nicht was sie sagen, sondern was sie nicht sagen. Das gilt auch für sehr manipulative Straftäter. Also ich hatte zum Beispiel jemanden auch da, der hat eine sehr schwere Straftat begangen und hat den kompletten Sachverhalt wahrheitsgemäß dargestellt, nur den Punkt, wo er genau selbst handelt und die Tat begeht, das hat er quasi ausgeklammert, so wie auf eine Pause-Taste gedrückt. Alles davor und danach, der Ablauf stimmte. Und dann hat er aber genau das ausgeklammert und hat aber am Ende noch was Kleines hinzugefügt. Und er hat gesagt "na ja, wenn Sie sich eine komplett neue Story ausdenken, müssen Sie sich alle Details merken, das ist doch viel zu anstrengend. Wenn Sie lügen, müssen Sie maximal die Wahrheit sagen, aber da, wo es relevant wird, da schneiden Sie was Kleines raus und fügen woanders was Kleines dazu. Den Rest brauchen Sie sich gar nicht merken, der Rest stimmt ja."


Outro

Alisha: Also jetzt haben wir auch gelernt, wie man richtig lügt. Das ist natürlich auch ein sehr spannender Punkt. Ich würde so gerne noch ganz, ganz lange mit dir weitersprechen, aber wir haben schon sehr viel abgedeckt und wir sind schon so weit über die Zeit, dass wir es, glaube ich, jetzt mal beenden müssen. Nichtsdestotrotz, glaube ich, konnte man extrem viel von dir lernen, was das Thema Rückfallprävention angeht, wie Straftäter funktionieren, wie man überhaupt zum Täter wird und vor allem auch wie man richtig lügt oder wie man Lügner eventuell enttarnen kann. Ich würde sagen, alle die noch mehr interessiert sind von dir zu lesen, zu hören, sollten sich deine Bücher anschauen, denn da gibt es mehr als eins über Psychopathinnen, über Sadisten und jetzt auch über manipulative Menschen. Außerdem hast du einen YouTube-Kanal, also man findet von dir wirklich ganz ganz viel. Würde ich auch sehr empfehlen, finde ich sehr sehr spannend und dann bedanke ich mich an dieser Stelle, dass du bei uns warst, liebe Lydia und ja, ist einfach schön, dass du da warst.

Lydia: Dankeschön. Tschüss.